Auf den Spuren der Sudauer

Die letzten Tage will ich noch mal der Heimat meiner Großmutter widmen. Ich bin abgestiegen in Jeleniewo, was so ziemlich der Nachbarort von Czerwonka ist. Von hier aus kann ich mir die Gegend in Ruhe genauer anschauen und auch etwas mehr Bewegung ins Spiel bringen, bevor ich auf dem Rückweg nach Hause wieder stundenlang im Auto hocke.

Also den Drahtesel gesattelt und ordentlich in die Pedale getreten. Erste kleine Pause in Szwajcaria, was übersetzt aus dem Polnischen übrigens Schweiz heißt - warum auch immer man den Ort so genannt hat 😅 In der Schweiz gibt es ein kleines Naturreservat und in dem Reservat zwar keine heidnische Opferstätte, aber hier wurde ein Grabkomplex der Sudauer gefunden. 

Die Sudauer, oder auch Jatwinger genannt, waren ein recht robuster, eigensinniger aber handwerklich wohl auch sehr geschickter Stamm mit baltischen Wurzeln, die so ziemlich von Beginn der Bronzezeit bis dann die Scherereien mit den Brüdern von Deutschorden losgingen, den Landstrich südlich der Memel bevölkerten. Sie wehrten sich wohl am längsten gegen die Christianisierung.

Hier vor mir in unspektakulärem Grün lag also ein Gräberfeld. Ein Grab hatte die Archäologen besonders fasziniert, denn hier scheint eine Art Krieger-Prinz samt Pferd, Schwert und wertvollen Beigaben geruht zu haben. Der Großteil der Fundstücke liegt heute im Museum in Suwałki, die leeren Gräber wurden wieder geschlossen. Die Natur herrscht jetzt hier und holt sich so langsam alles wieder zurück, nur die Umrisse der kleinen Grabhügelchen sind noch schemenhaft erkennbar.


Ratet mal, welcher Ort als nächstes angesteuert wurde: eben jenes Museum. Ein unscheinbares Gebäude in einer unscheinbaren Stadt und trotzdem hat es mich über zwei Stunden lang völlig gefesselt.

Es gab zwei Ausstellungen, in der ersten wurde Kunst dargeboten und zwar überwiegend die Gemälde von Alfred von Wierusz-Kowalski. Der werte Herr war hier geboren und lebte bzw. starb auch in München, wo er eine ganze Künstlerschule begründete. Ich würde behaupten ich habe noch nie in meinem Leben so realistische Bilder gesehen. Wahnsinn, was für eine ausgeprägte Beobachtungsgabe dieses Genie gehabt hat und so fotografische Ölschinken zu zaubern 😳



Das Bild vom Gänselieschen erinnerte mich direkt an meine Oma, hat sie doch in ihren letzten Tagen immer wieder davon erzählt, wie sie hier in ihrer Heimat ganz allein eine riesige Schar von Gänsen hüten musste.


Doch nach der grandiosen Kunst war der Besuch noch lang nicht beendet. Denn jetzt begann der historische Part. Gleich zu Beginn wurde das Modell eben jenes Grabkomplexes aus Szwajcaria präsentiert, inklusive Darstellung der Begräbniszeremonie.


Und dann war ich vollends verzaubert von diesem wahnsinnig liebevoll gestalteten Museum. Der erste Raum hätte auch einfach das Studienzimmer eines Archäologen sein können, durch das man frei stöbern kann. Szenisch untermalt mit passender Abenteuermusik selbstverständlich.


Dann folgten die Räume chronologisch, beginnend mit der Eis- und Steinzeit. Ganz anders als in den meisten verstaubten Museen dieser Art sind hier die Exponate total unkonventionell ausgestellt, mal in die Wand eingelassen, mal lässig im Regal liegend - einfach genial!
Allein das Konzept der Darstellung muss unheimlich aufwendig gewesen sein, ganz zu schweigen von der Umsetzung. Hier hat jemand wahnsinnig viel Herzblut reingesteckt und das sieht und spürt man in jeder Ecke 😻



Diese hübschen Perlen und der Kamm aus Horn wurden als Beigabe in der Gräbern entdeckt, auf denen ich noch heute morgen mitten im Wald stand.





Aber die Zeit schreitet voran und so auch die Ausstellung. Viel war zu erfahren über die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen und auch so manche Spuren deutscher Besatzung auffindbar. Die Region Suwałki ist schon immer ein klassisches Grenzland gewesen, an dem alle gezerrt haben. So war es mal polnisch, mal deutsch, mal russisch, aber auch litauisch. Das mag auch noch von der baltischen Zugehörigkeit der Sudauer her rühren, durch deren ursprüngliches Gebiet ja nun eigentlich genau mittig die litauisch-polnische Grenze führt.

 Es ist immer wieder spannend, die Geschichte, die man in der Schule gelernt hat, auch noch mal aus der Perspektive der anderen Länder zu betrachten. Oft vergessen wir nämlich, dass die Überlieferungen immer aus der Sicht der Gewinner geschrieben werden. So wurden auch hier die polnischen Partisanen hochgelobt für ihren Unabhängigkeitskampf. Aus den Berichten meines Großonkels weiß ich, dass er sie als Kind hier in der Gemeinde Suwałki als ziemlich brutal und gefährlich wahrgenommen hat.



Die Volksvertreibungen, deren Opfer auch meine Vorfahren wurden, waren hier hingegen nur regelrecht beiläufig erwähnt.


Krass fand ich, dass man nar Abzug der "Volksdeutschen" Bewohner gruselige Arbeitslager für russische Kriegsgefangene anlegte. Klar hatten die Russen auch mit dieser Region viel Schindluder getrieben und viele Bewohner nach Sibirien verschleppt, wie auch in Litauen. Aber was für ein Monster muss man sein, wenn man Menschen wie Tiere einfach hinter einen Zaun sperrt und sie mit bloßen, blutigen Händen ihre eigenen Grablöcher scharren lässt, bis sie vor Hunger so schwach sind, dass sie tot hineinfallen, nur weil sie die falsche Staatsbürgerschaft haben?
Ohne es zu wissen, bin ich heute morgen auch über genau diesen Boden gewandelt, denn die Lager befanden sich unweit der Ausgrabungsstätte.


Nach so viel Input musste ich den Kopf auch erst einmal wieder frei bekommen. Wie geht das am besten? Mit Leibesertüchtigung 🤭 also wieder auf's Rad, raus aus der lauten Stadt und Meter durch Wald und Wiesen gemacht.
Die Landschaft hier ist wirklich extrem hügelig. Damit meine ich nicht so leicht bergig wie bei uns, sondern wirklich wellig - mir fällt gar kein gescheiter Vergleich ein - wie kurze Sinuswellen in 3D vielleicht.

Berg + strenge Winter in der kältesten Region Polens = Wintersportparadies... Man hat zumindest einen Skihang angelegt, für Anfänger wie mich zum üben sicher ein Paradies 😅

Auch heute kamen wieder einige Meter zusammen und nun bin ich wirklich gut platt. 

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